Ein Puppenheim
Entstehung
Die ältesten Aufzeichnungen zu 'Ein Puppenheim' tragen die Datumsangabe 19. Oktober 1878. Ibsen war kurz zuvor von München nach Rom gezogen. Unter der Überschrift "Aufzeichnungen zu einer Gegenwarts-Tragödie" schreibt Ibsen:
"Es gibt zwei Arten von geistigem Gesetz, zwei Arten von Gewissen, eins im Manne und ein ganz anderes im Weibe. Sie verstehen einander nicht, aber die Frau wird im praktischen Leben nach dem Gesetz des Mannes beurteilt, als wäre sie kein Weib, sondern ein Mann. Die Frau in diesem Stück weiß am Ende weder aus noch ein, weiß nicht, was Recht und Unrecht ist. Das natürliche Gefühl einerseits und der Autoritätsglaube andererseits bringt sie in völlige Verwirrung."
Ibsens Wissen um den Fall Laura Kieler spielte eine gewisse Rolle bei der Ausgestaltung der dramatischen Konflikte in diesem Stück. Laura Smith Petersen - sie heiratete später und nahm den Nachnamen Kieler an - hatte 1869 den Roman 'Brands Töchter: ein Lebensbild' veröffentlicht, eine Art Fortsetzung von Ibsens 'Brand'. Im Jahr darauf kamen sie und Ibsen miteinander in Kontakt und wurden Freunde. Sie besuchte Ibsen 1871 in Dresden und fünf Jahre später - zusammen mit ihrem Mann, Victor Kieler, - in München.
1876 erkrankte Victor Kieler an Tuberkulose und erhielt den ärztlichen Rat, sich einige Zeit im Süden aufzuhalten. Laura Kieler nahm ohne Wissen ihres Mannes einen Kredit auf, um diesen Aufenthalt zu finanzieren, bekam aber nach und nach so große Probleme mit den Kreditgebern, dass sie - wie Nora - einen Wechsel fälschte, um Geld zu beschaffen.
Der Fall endete tragisch. Die Wechselfälschung wurde entdeckt und der Mann verlangte die Scheidung. Laura Kieler wurde das Beisammensein mit ihrem Kind verwehrt und sie wurde aufgrund der nervlichen Belastung für einige Zeit in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. All dies war Ibsen bekannt, während er an 'Ein Puppenheim' arbeitete.
Den ersten vollständigen Entwurf zu dem Stück begann Ibsen am 2. Mai 1879. Das Manuskript trägt die folgenden Datumsangaben:
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Angefangen |
Beendet |
1. Akt |
2. Mai |
24. Mai |
2. Akt |
4. Juni |
14. Juli |
3. Akt |
18. Juli |
3. August |
Ibsen nahm kontinuierlich Änderungen vor, auch noch, als er an der Reinschrift arbeitete, die Mitte September fertiggestellt war. Das Manuskript in Reinschrift wurde von Amalfi an Frederik Hegel geschickt. Am 6. Oktober 1879 verließ Ibsen Amalfi und kehrte nach München zurück.
Erstausgabe
'Ein Puppenheim' erschien am 4. Dezember 1879 im Verlag Gyldendalske Boghandel (F. Hegel & Sohn) in Kopenhagen in einer Auflage von 8000 Exemplaren, die bis dahin höchste Erstauflage eines Werkes von Ibsen. Das Buch wurde ein sensationeller Erfolg, die Erstauflage war in weniger als einem Monat vergriffen. Eine neue Auflage in Höhe von 4000 Exemplaren erschien am 4. Januar 1880 und eine dritt e in Höhe von 2500 Exemplaren am 8. März desselben Jahres.
'Ein Puppenheim' löste in allen Kreisen, öffentlich und privat, heftige Diskussionen aus. Das Stück wurde Ibsens erster internationaler Erfolg. Mit ihm schrieb er sich in die Weltliteratur hinein.
Uraufführung
'Ein Puppenheim' wurde am 21. Dezember 1879 am Det Kongelige Teater in Kopenhagen uraufgeführt. Die Aufführung fand vor ausverkauftem Haus statt und wurde ein großer Erfolg. Die Rollen der Nora und des Torvald wurden von Betty Hennings und Emil Poulsen gespielt. Regisseur war H. P. Holst.
Im Laufe von zwei Monaten wurde das Stück auf allen großen Bühnen in den skandinavischen Ländern gespielt, am 8. Januar im Dramaten in Stockholm, am 20. Januar im Christiania Theater, am 30. Januar in Den nationale Scene in Bergen und am 25. Februar am finnischen Nationaltheater in Helsinki. Die ersten Aufführungen auf dem Kontinent fanden in Deutschland statt, wo das Stück an einer Reihe von Theatern im Jahre 1880 gespielt wurde.
Die letzte Szene in 'Ein Puppenheim' hielten einige deutsche Theaterdirektoren für zu radikal. Sie forderten einen anderen, "glücklichen" Ausgang, bevor sie es wagten, das Stück aufzuführen. Die bekannte deutsche Schauspielerin Hedwig Niemann-Raabe war interessiert an der Rolle der Nora, stellte aber dieselbe Forderung.
Eine alternative Schlussfassung wurde geschrieben, von keinem anderen als Ibsen selbst. In einem offenen Brief an die dänische Zeitung Nationaltidende, vom 17. Februar 1880, rechtfertigt Ibsen seine alternative Fassung:
"Gleich nach Erscheinen von «Nora» teilte mein Übersetzer und Agent für die norddeutschen Theater, Herr Wilhelm Lange in Berlin, mir mit, er habe Grund zu befürchten, daß eine andere Übersetzung oder «Bearbeitung» des Stückes mit verändertem Schluß herauskäme und wahrscheinlich von verschiedenen norddeutschen Bühnen bevorzugt würde. Um einer solchen Möglichkeit vorzubeugen, schickte ich ihm für den Notfall einen Änderungsentwurf, wonach Nora, ehe sie das Haus verlassen kann, von Helmer an die Tür zum Schlafzimmer der Kinder gedrängt wird. Dort wechseln sie ein paar Repliken, Nora sinkt an der Tür zusammen - und der Vorhang fällt. Diese Änderung habe ich meinem Übersetzer gegenüber selbst als eine barbarische Gewalttat an dem Stück bezeichnet. Es geschieht also ganz gegen meinen Willen, wenn man davon Gebrauch macht. Aber ich hege die Hoffnung, daß die Ändeung von recht vielen deutschen Bühnen abgelehnt wird.
Solange keine literarische Konvention zwischen Deutschland und den skandinavischen Ländern abgeschlossen wird, sind wir nordischen Autoren hier unten völlig rechtlos, ebenso wie es ja die deutschen Autoren bei uns sind. Unsere dramatischen Arbeiten sind hier deshalb häufig gewaltsamer Behandlung durch Übersetzer und Direktoren, durch Regisseure und Schauspieler an kleineren Bühnen ausgesetzt. Aber droht derartiges mir, dann ziehe ich es vor - durch frühere Erfahrungen gewitzigt -, die Gewalttat selbst auszuüben, statt meine Arbeiten der Behandlung und «Bearbeitung» durch weniger behutsame und weniger kundige Hände auszusetzen."
Für die Erstaufführung in Deutschland, in Kiel am 6. Februar 1880, wurde diese alternative Version verwendet. Die Aufführung ging nach der Premiere auf eine Gastspielreise durch Deutschland, die aber kein Erfolg wurde. In Berlin kam es sogar zu offenen Protestaktionen gegen die Entstellung des Werkes.
Geschrieben von: Jens-Morten Hanssen/ibsen.net