Norma
Entstehung
'Norma oder die Liebe eines Politikers' wurde Ende Mai 1851 innerhalb von zehn Tagen in Kristiania geschrieben. Ibsen war zu diesem Zeitpunkt einer von drei Redakteuren des Wochenblattes 'Andhrimner' - die beiden anderen waren Paul Botten-Hansen und A. O. Vinje. 'Andhrimner' oder 'Manden' (der Mann), wie es anfänglich hieß, strebte an, das norwegische Gegenstück des dänischen Corsaren zu sein, eine literarische, politisch unabhängige Zeitschrift mit satirischem Stachel. Ibsen schrieb Theaterrezensionen wie auch Beiträge zu aktuellen Themen.
Am 20. Mai 1851 fand im Christiania Theater die Premiere von Vincenzo Bellinis Oper 'Norma' statt. Ibsen sah die Vorstellung und schrieb eine Rezension darüber im Andhrimner vom 25. Mai. Aber er ließ sich auch inspirieren, eine dramatische Parodie zu schreiben, in der die Figuren von Bellinis Oper von zentralen Akteuren der aktuellen politischen Szene in Norwegen dargestellt wurden. Wie das zuging, beschreibt Ibsen näher im Vorwort des Stückes.
"Neulich saß ich auf der Galerie des Stortings. Was man diskutierte, war von gleicher Art wie das meiste, und ich kann mich deshalb nicht mehr erinnern, um was es ging. Da zufällig Schydtz redete und ich also auf nichts meine Aufmerksamkeit zu richten hatte, ließ ich der Phantasie freien Lauf und überließ mich jenem behaglichen Schwebezustand, halb im Reich der Wirklichkeit, halb in dem der Phantasie, dem wir uns in freien Stunden so gern überlassen, wenn entweder unsere Seele ermüdet ist, oder die Umwelt, die uns umgibt, die passende einschläfernde Wirkung ausübt. Ich dachte so: In diesen 106 Köpfen - teils mit, teils ohne Perücke - steckt die Quintessenz all der Vortrefflichkeit, all der geistigen Begabung, die [unser] altes Norwegen aufzuweisen hat, vom Nordkap nach Lindesnes, von Svinesund nach Stavanger (wo ja Natvig gewählt wurde). Hier gibt es Genialität, Redegewandtheit, Patriotismus, Liberalität zusammengedrängt in kompakten Massen. Und von all diesen vorzüglichen Eigenschaften haben selbst die seltensten Erscheinungsformen ihre Repräsentanten, so steht z. B. Skjerkholdt für einen Hauch von Genialität, dito Parnemann für einen Hauch von Redegewandtheit, usw. usw. Die lyrische Begabung findet natürlich ihren Ausdruck durch Natvig, der so in gewisser Weise das Verbindungsglied zwischen der Poesie und der Politik bildet.
In dieser Richtung setzte ich meine Betrachtungen einige Stunden lang fort, bis Schydtz fertig wurde und dadurch mein ungestörter Gedankenflug unterbrochen wurde.
Abends sah ich «Norma» - und plötzlich ging mir ein Licht auf: «Das Storting ist eine dramatisch begabte Korporation!»"
Weiter setzt Ibsen im Vorwort ausgewählte Politiker aus Regierung und Storting den einzelnen Figuren in Bellinis Oper gleich.
'Norma oder die Liebe eines Politikers' ist eine Gelegenheitsarbeit und nur von marginalem Interesse in Ibsens Werk. Aber zwei Aspekte des Stückes verdienen Beachtung: zum einen sehen wir den Versuch des werdenden Dramatikers im Genre der politischen Satire und zum anderen verweisen einige Elemente bereits auf das Stück 'Der Bund der Jugend', das Ibsen fast zwei Jahrzehnte später schrieb.
Erstausgabe
'Norma oder die Liebe eines Politikers' erschien anonym im Andhrimner am 1. und am 8. Juni 1851. Das Stück ist von minimaler Länge und nimmt zusammen nur 13 Spalten ein. Die genaue Auflage der Zeitschrift zu diesem Zeitpunkt ist nicht bekannt. Die Anzahl der Abonnenten lag jedoch unter 100. Andhrimner gelang nie der Durchbruch, und es wurde bald aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt (es erschien im Zeitraum vom 5. Januar bis zum 28. September 1851).
Danach wurde das Stück zu Ibsens Lebzeiten nicht wieder veröffentlicht. 1909 wurde es in den ersten Band von Ibsens 'Efterladte skrifter' aufgenommen ('Nachgelassenen Schriften' - herausgegeben von Halvdan Koht und Julius Elias).
Uraufführung
'Norma oder die Liebe eines Politikers' wird als eine 'Musiktragödie in drei Akten' bezeichnet. Im letzten Absatz des Vorwortes des Stückes schrieb Ibsen:
"Diese Betrachtungen waren es, die mich bewegten, die Oper 'Norma oder die Liebe eines Politikers' zu arrangieren, deren Text gedruckt beiliegt, und die ich hiermit dem Storting zur Aufführung bei irgendeiner festlichen Gelegenheit anbiete. Für die Musik muß es selbst sorgen, aber da es Virtuosen auf allen Instrumenten von der Trompete bis zur Trommel und Posaune besitzt, wird dies hoffentlich nicht schwerfallen. Freilich weiß ich, daß das Ting bis auf weiteres genug zu bestellen hat, aber es wäre ja nicht unmöglich, daß Seine Majestät auf Grund dieser ungemeinen Anstrengungen gefährliche Folgen befürchten müßte, besonders während der Hundstage, und sollten also dem Ting eines schönen Tages Ferien bis auf weiteres bewilligt werden, dann wäre es gut, wenn es einen nützlichen und angenehmen Zeitvertreib hätte, um sich damit zu divertieren."
Unglücklicherweise hat kein Storting dies als etwas anderes als reine Ironie aufgefasst, und das Stück wurde zu Ibsens Lebzeiten nicht aufgeführt (es war auch nicht für die Theaterbühne geschrieben worden). Aber im November 1994 hatte das Stück seine Welturaufführung in Trondheim - die jüngste und letzte Uraufführung eines Stückes von Ibsen. Das "Studentenes Interne Teater" der Studentenschaft Trondheim führte eine bearbeitete Version des Stückes auf. Die Aufführung stellte einen Kommentar zu der Debatte um die Mitgliedschaft Norwegens in der EU dar und war ein künstlerischer Beitrag zu einer Versammlung zu diesem Thema. Regie führte Marit Moum Aune.
Geschrieben von: Jens-Morten Hanssen/ibsen.net